Gleiche Lernfortschritte beim Lesen trotz ADHS

Beobachtungen über mehrere Jahre zeigen überraschende Resultate

Die „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) zählt zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindesalter und geht vielfach mit geringerem Bildungserfolg einher. So haben beispielsweise mehrere Studien belegt, dass Kinder mit ADHS bei Leseleistungstests schlechter als ihre nicht betroffenen Altersgenossen abschneiden. Bislang gibt es jedoch nur wenige Forschungsarbeiten, die nachzeichnen, wie sich die Symptome von ADHS und die Leseleistungen langfristig und im Zusammenhang entwickeln. Eine Studie des vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) koordinierten Forschungszentrums „Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk“ (IDeA) liefert hierzu nun neue Erkenntnisse. Das verantwortliche wissenschaftliche Team hat 2014 Grundschulkinder in Baden-Württemberg von der ersten bis zur vierten Klasse begleitet und in jedem Jahr untersucht, welche ADHS-Symptome sie aufweisen und wie sie bei Lesetests abschneiden. Kernergebnis: „Kinder mit starken ADHS-Symptomen zeigen beim Lesen die gleichen Lernfortschritte wie Kinder mit geringen Anzeichen für die Störung“, so Dr. Jan-Henning Ehm vom DIPF, Erstautor der Studie.

Zwar schnitten die Kinder mit deutlichen ADHS-Symptomen bei den aktuellen Untersuchungen bei jedem Lesetest merklich schlechter ab; der Abstand zu Schülerinnen und Schülern mit geringen Anzeichen für die Störung, wie sie der Durchschnitt aller Kinder zeigt, blieb jedoch gleich. „Im Mittel erzielten alle den gleichen Lernzuwachs“, erläutert Bildungsforscher Ehm. Dieses eher nicht zu erwartende Ergebnis brachte eine spezifische Untersuchungsmethode zutage: Die Forschenden stützten sich nicht auf eine einmalige klinische Diagnose von ADHS und einem davon ausgehenden Vergleich mit nicht betroffenen Mitschülerinnen und Mitschülern, sondern erfassten in jedem Schuljahr bei allen Kindern die Ausprägung von ADHS-Symptomen neu. Ehm: „Damit konnten wir dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die Ausprägung der ADHS-Anzeichen im Verlauf der Zeit verändert.“ Erst unter Einberechnung dieser Veränderungen ergab sich der Befund der vergleichbaren Lernfortschritte.

Für die Überprüfung der ADHS-Symptome bei den Grundschulkindern zogen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Einschätzungen der Lehrkräfte heran, die sie in jedem Schuljahr über Fragebögen erfassten. In diesen äußerten sich die Lehrerinnen und Lehrer zu den wichtigsten Anzeichen der Störung – Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität –, indem sie Fragen wie „Ist das Kind im Unterricht leicht ablenkbar?“ oder „Denkt das Kind, bevor es handelt?“ beantworteten und dazu auf einer Skala angaben, wie stark dies jeweils zutrifft. Die Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler wurden mit standardisierten Tests von Wort- und Text-Verständnis erhoben. Die Kinder sollten in begrenzter Zeit so viele Wörter beziehungsweise Sätze wie möglich lesen und die Wörter Abbildungen zuordnen beziehungsweise Verständnisfragen zu den Sätzen beantworten. Die Ergebnisse der Untersuchungen wertet Jan-Henning Ehm als wichtigen Hinweis für zukünftige wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Gebiet: „Es sollte beachtet werden, dass die Ausprägung von ADHS-Symptomen Schwankungen unterliegt und sich diese Veränderungen auf die Zusammenhänge mit Lernerfolgen auswirken können.“

Kontakt:
Dr. Jan-Henning Ehm, DIPF, +49 (0)69 24708-723, Ehm@dipf.de