Fortschritte und Irrwege – ein Thema beim Tag der Angestellten

Walter Roscher: Nicht jeder Trend erweist sich als segensreich

Beim Online-Event „Ausnahmsweise geht es mal nur um uns – die Angestellten“ am 28. August, das von der Sektion Angestellte und Beamtete Psycholog*innen im BDP  in Kooperation mit dem Verband Psychologischer Psychotherapeuten und der Sektion Klinische Psychologie veranstaltet wird, geht es unter anderem um Berufsfelder wie Erziehungsberatung seit den 1920er Jahren. Damals waren es medizinisch-pädagogische Beratungsstellen. In der Zeit des und Diversifizierung bis heute.  Dass Dipl.-Psychologe Walter Roscher diesen Prozess zwar nicht von Anbeginn erlebt hat ihn aber durchaus historisch aufgearbeitet, analysiert und aus jahrzehntelanger eigener Erfahrung kennt, macht ihn zu einem idealen Referenten.

„Vorläufer gab es bereits in den 1920er Jahren; da waren sie vor allem medizinisch-pädagogische Beratungsstellen. In der Zeit des Nationalsozialismus mutierten sie zu Jugendsichtungsstellen mit dem Ziel der Umerziehung im Sinne der Nazis. Nach dem Krieg setzte eine immer umfangreicher werdende Diversifizierung ein.“

Aus dem Pflänzchen Erziehungsberatung ist über die Jahre ein Garten geworden, in dem auch Ehe- und Familienberatung, Scheidungs- und Paarberatung einen Platz gefunden haben. Zuletzt gesellten sich immer mehr Elternfragen und Kinderschutz dazu. „Das hatte zum einen mit Bedarfen zu tun, zum anderen mit Erkenntnisgewinnen, aus denen unterschiedliche Schulen und Beratungsansätze entstanden.“ Darin sieht Roscher durchaus auch Fortschritte. Auch die an Beratung zunehmend beteiligten Sozialarbeiter und ihre Kooperation mit Psychologen ist aus seiner Sicht positiv, so wie interdisziplinäres Arbeiten in anderen Bereichen auch.

Keine sinnvolle Bedarfsermittlung

„Erst als Finanzen anfingen Inhalte zu bestimmen, begann etwas, was man als einen Irrweg bezeichnen kann. Dabei müssten doch der tatsächliche Bedarf an Beratung in schwierigen Lebenssituationen und die dafür benötigte Qualifikation ausschlaggebend für die personelle Ausstattung von Beratungsstellen sein und nicht das vorgegebene Budget, mit dem sich mehr Sozialarbeiter- als Psychologenstellen besetzen lassen.“ Roscher ist mit der Bedarfsermittlung insgesamt unzufrieden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehe von der jeweiligen Gesamtbevölkerung einer Region aus und lege dafür einen Prozentsatz fest. „Danach sind wir überall chronisch unterbesetzt. Das Vorgehen ignoriert dabei die unterschiedlichen Problemlagen in z.B. ärmeren und reicheren Bundesländern.“ Ein anderer Berechnungsmaßstab sei die Zahl der Kinder in einer Region. „Das wäre sinnvoll, ginge es ausschließlich um Kinder“, erklärt Walter Roscher. Inzwischen sind die Beratungsangebote und Bedarfe jedoch viel weiter gefächert. „Es wird mehr Sozialberatung gebraucht, Arbeits- und Wohnungslosigkeit sind neu hinzugekommene Themen. Dafür brauchen die Beratungsstellen zusätzliches Personal, dessen Umfang sich nicht an der Zahl der Kinder bemessen lässt.“

Renditeerwartungen mit Folgen

Diverse Anbieter haben sich über die Jahre etabliert. Der in der Verfassung verankerte Anspruch auf Erziehungsberatung steht nicht mehr im Mittelpunkt. „Neben staatlichen Stellen ist ein Markt gewachsen, und auf diesem muss Geld verdient werden. Je höher die Renditeerwartungen des jeweiligen Trägers, je größer der Druck auf die Personalkosten. Und so findet man immer mehr Stellenanzeigen, in denen nicht mehr Dipl.- bzw. Master-Psycholog*innen oder Psychologische Psychotherapeut*innen gesucht werden, sondern verschwommene Formulierungen über Kenntnisse auf diesem oder jenem Gebiet zu finden sind. Das öffnet allen möglichen Bewerber*innen Tür und Tor.“

Als bedauerlich sieht Roscher es an, wenn manche Psycholog*innen unter dem Druck kapitulieren und sich nur wie Sozialarbeiter bezahlen lassen. Es ärgert ihn, wenn Psychologische Psychotherapeut*innen vorpreschen und sich als die optimale Lösung anbieten, weil sie ja beides – Psychologie und Psychotherapie – könnten. Das berührt einen wie ihn, der noch mitgekämpft hat für ein Psychotherapeutengesetz, besonders unangenehm. „Selbst die, die noch ein Diplom oder einen Master in Psychologie erworben haben, sollten angesichts hochspezialisierter Berufsfelder in der Psychologie mit solchen Aussagen lieber vorsichtig sein. Und für künftige Psychotherapeuten, die nur den Bachelor in Psychologie gemacht haben, gilt die zweifache Qualifikation schon gar nicht mehr.“

Vor allem werden die Psychologen aber wohl diejenigen von ihrer speziellen Ausbildung und Kompetenz überzeugen müssen, die berechtigt sind Stellen zu schaffen und zu besetzen, nicht zu vergessen den Gesetzgeber, von dem viele Psychologen endlich auch ein Psychologengesetz erwarten.

Beratung ist keine Psychotherapie

Trotz aller Probleme sieht Walter Roscher in der Arbeit in Beratungsstellen eine gute Chance für Psychologen, denn „Beratung ist keine Psychotherapie!“. Stellensuchende nach gerade abgeschlossenem Studium können sich auf Praktikumsplätze in Beratungsstellen bewerben, das Arbeitsfeld kennenlernen, Kontakte knüpfen, viel lernen und danach bewusster entscheiden, wo ihre eigene Zukunft liegt. Ihre Chancen auf eine Anstellung verbessern sich. Leider sind Praktika überwiegend unbezahlt. Die in Pandemiezeiten gewonnenen Erfahrungen mit telefonischer oder Video-Beratung werden – so schätzt Roscher – Folgen für künftige Beratungsstrukturen haben. Aus seiner Arbeit in der Chat-Beratung hat er eine positive Erfahrung gewonnen: dort meldeten sich viele, die womöglich nie eine Beratungsstelle aufgesucht hätten. Er sieht in dem niedrigschwelligen Angebot nicht nur unter Corona-Bedingungen eine passable Möglichkeit, Menschen zu helfen und ihnen ihre eventuell vorhandene Angst vor einer Beratungsstelle zu nehmen.